Schneller als Einstein (2024)

Schneller als Einstein (1)

An diesem gordischen Knoten hatte auch Albert Einstein zusammen mit seinem Mathematikerfreund Marcel Grossmann seit 1912 gearbeitet, bis dahinvergeblich.

Nach dem Erfolg der Speziellen Relativitätstheorie von 1905 hatte Einstein eine Verallgemeinerung gesucht, die das Phänomen der Schwerkraft einbezog. Von der Mathematik ausgehend hatte auch Hilbert sich einer physikalischen Frage gewidmet: Ihm ging es darum, die beiden damals bekannten Naturkräfte, des Elektromagnetismus und der Gravitation, zuvereinheitlichen.

Anders als Einstein, der sich stets von seiner physikalischen Intuition leiten ließ, war Hilbert überzeugt, allein die Mathematik biete die Mittel, die Physik auf neue Grundlagen zustellen.

Mit der anmaßenden Aussage, "die Physik ist für die Physiker viel zu schwer", forderte Hilbert seine Kollegen heraus. In den Wochen vor seinem angekündigtem Vortrag versuchten die Göttinger Gelehrten sich in jenen Bereich der Mathematik einzuarbeiten, den Hilbert in den Jahren zuvor maßgeblich vorangebracht hatte: dieInvariantentheorie.

Wie die große Mathematikerin Emmy Noether einem Freund berichtete, fühlten sich Hilberts namhafte Zuhörer, Felix Klein, Constantin Carathéodory, Carl Runge und andere, dem mathematischen Können Hilberts nicht gewachsen und stürzten sich wie Studenten mit Eifer auf die verfügbarenLehrbücher.

Postkarte an Einstein

Zur Präsentation seiner Lösung der Gravitationsgleichungen hatte Hilbert am 13. November auch Einstein aus Berlin eingeladen. Der berühmte Physiker sagte jedoch ab, obwohl ihn Hilberts Lösung, wie er selbst betonte, "gewaltig"interessierte.

Er bat Hilbert, ihm seine Ergebnisse zu schicken, sorgte aber gleichzeitig diskret dafür, dass der Göttinger Assistent Walter Baade - später ein berühmter Astronom - ihm einen Auszug des Hilbert'schen Vortrags zukommen ließ. Baade sandte seine Aufzeichnungen an den Astronomen Erwin Freundlich, der in Berlin mit Einsteinarbeitete.

Gleich nach seinem Vortrag schickte auch Hilbert eine Postkarte an Einstein, auf der er seine Gravitationsgleichungen darlegte. Am 20. November 1915 reichte Hilbert seine Arbeit mit dem wenig bescheidenen Titel "Die Grundlagen der Physik" bei der Akademie der Wissenschaften zu Göttingenein.

Anstatt sich über Hilberts Lösung zu freuen, ärgerte sich Einstein: Nach jahrelangen vergeblichen Mühen hatte ein anderer sein Problem gelöst. Innerhalb von nur acht Tagen baute er Hilberts Gleichungen in seine Theorie ein und übergab am 25. November eine Abhandlung der BerlinerAkademie.

Keine Erwähnung der enormen Leistung

Obwohl fünf Tage später eingereicht, wurde Einsteins Arbeit früher veröffentlicht. Sie verärgerte nun Hilbert, da Einstein es nicht für nötig gehalten hatte, seine enorme Leistung auch nur zu erwähnen. Wie der Streit zwischen den beiden Forschern genau ablief, ist nichtüberliefert.

Doch bat Einstein am 20. Dezember Hilbert um Entschuldigung: "Es ist zwischen uns eine gewisse Verstimmung gewesen, deren Ursache ich nicht analysieren will. (. . .) Ich gedenke Ihrer wieder in ungetrübter Freundlichkeit, und bitte Sie, dasselbe bei mir zu versuchen. Es ist objektiv schade, wenn sich zwei wirkliche Kerle, die sich aus dieser schäbigen Welt etwas herausgearbeitet haben, nicht gegenseitig zur Freudegereichen."

Hilbert nahm Einsteins Entschuldigung an, bestand aber zeitlebens auf seiner Urheberschaft an den Gravitationsgleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie - verständlicherweise, denn es war einer der Höhepunkte seiner wissenschaftlichenLeistungen.

Die Welt der Physik aber gönnte nur Einstein den Ruhm. Schließlich sah man damals keine Notwendigkeit, die bekannten physikalischen Kräfte zu vereinheitlichen, wie es ironischerweise das höchste Ziel der heutigen Grundlagenphysik ist, zum Beispiel in der Stringtheorie. So gesehen wurde Hilbert zum Vater der modernen Physik derVereinheitlichung.

Dem großen Mathematiker kam dabei ein universeller Überblick über die weitreichenden Verästelungen seines Fachgebiets zugute. Zu jener Zeit galt Hilbert längst als einer der größten Mathematiker des Jahrhunderts. Mehrere Bereiche der Mathematik hatte er revolutioniert und auf neue Grundlagen gestellt: die Invariantentheorie 1888, die Zahlentheorie 1897 und die Geometrie 1899. In seinem legendären Pariser Vortrag des Jahres 1900, in dem er 23 ungelöste mathematische Probleme skizzierte, bestimmte Hilbert maßgeblich die Entwicklung der Mathematik der folgenden hundertJahre.

Für die Gravitationsgleichungen verfolgte Hilbert, anders als Einstein, das Ziel, zwei Naturkräfte zu einer universellen Kraft zu vereinen. In Hilberts Lösung ist die Gravitation die fundamentale Kraft, aus der sich die elektromagnetische Kraft mathematisch ergibt. Hilberts physikalisches System setzte einen umfangreicheren mathematischen Rahmen voraus als Einsteins spezifischeres Ziel, nur eine Kraft, die Gravitation, zuenträtseln.

Hilberts Ansprüche reichten dabei noch weit über die Physik hinaus. Von einem unerschütterlichen erkenntnistheoretischen Optimismus geprägt, war er fest überzeugt, jede Frage ließe sichbeantworten.

Ausgehend von strengen Axiomen (wie: durch zwei Punkte führt genau eine Gerade) meinte Hilbert, jeder wahre mathematische Satz lasse sich auch beweisen. Eine Annahme, die der österreichisch-amerikanische Mathematiker Kurt Gödel später widerlegen sollte. Gödel zufolge gibt es Sätze, die prinzipiell weder beweisbar noch widerlegbar sind, was er in seinem berühmt gewordenen Unvollständigkeitssatzzeigte.

Hilbert war vom weltoffenen, aufgeklärt liberalen Charakter seiner Heimatstadt Königsberg tief geprägt, wo er vor 150 Jahren am 23. Januar 1862 in einer protestantischen Juristenfamilie zur Welt gekommen war. Dort hatte er sich seine kantianischen Anschauungen angeeignet, die ihn prägten und ein Leben langleiteten.

Probleme mit den Nazis

Genauso wie Hilbert jede Grenze der Erkenntnis ablehnte, lehnte er jede Form von Autoritarismus, Chauvinismus und Antisemitismus ab. Jedes vernunftbegabte Wesen betrachtete Hilbert als fähig, Mathematik zu betreiben, gleich welchen Glaubens, Geschlechts und welcherHerkunft.

Daher lehnte Hilbert auch die seinerzeit übliche Zurücksetzung der Frauen ab und kämpfte lange Jahre für das Frauenstudium und die Habilitation der genialen Emmy Noether. Der Pazifist Einstein empfand Hilbert während des Ersten Weltkriegs als einen seiner wenigen "echtenGesinnungsgenossen".

Hilberts erkenntnistheoretischer Optimismus übertrug sich auf seine ganze Umgebung. Zusammen mit Felix Klein vermochte Hilbert in knapp 40 Jahren in Göttingen ein "Mekka der Mathematik und Physik" zu errichten. Nur eins brach Hilberts Optimismus: das Aufkommen der Nazis, die er für Verbrecherhielt.

Der einmaligen Blüte der Wissenschaften aus dem Geiste Hilberts setzten sie ein jähes Ende: Hilberts Kollegen und teils auch Schüler Felix Bernstein, Max Born, Richard Courant, James Franck, Edmund Landau, Emmy Noether und viele andere wurden als "Nicht-Arier" oder "Demokraten" entlassen. Hilberts Nachfolger Hermann Weyl verließ Göttingenfreiwillig.

Als Bernhard Rust, der NS-Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Hilbert bei einem Empfang 1935 fragte, ob das mathematische Leben in Göttingen gelitten habe, antwortete er: "Jelitten? Dat hat nich jelitten, Herr Minister, dat jibt es doch janichmehr."

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